Zum Problem des unzuverlässigen Erzählers im Mittelalter
DOI:
https://doi.org/10.25619/BmE2019231Abstract
Historische Erzählforschung unterliegt einer Spannung im Gebrauch narratologischer Begriffe, nämlich zwischen ausweitender Verallgemeinerung – z. B. durch Absehen von den Implikationen der kulturellen Funktion eines textuellen Phänomens – und verengender Schärfung. Auch das Konzept des ›unzuverlässigen Erzählers‹ wird durch diese Spannung problematisch, wenn es auf mittelalterliche Romanliteratur appliziert werden soll. Der Beitrag unternimmt eine kritische Revue einiger vormoderner Erzählerfigurationen, die die Forschung als unzuverlässig bezeichnet hat, darunter Wolfram von Eschenbach und Geoffrey Chaucer. Diese Revue läßt erkennen, daß von Unzuverlässigkeit meist gesprochen wird, wo wohl eher Ambiguität, Uneindeutigkeit, Ironie und humoristische Distanz vorliegen. Es scheint jedoch aussichtslos, unzuverlässige Erzähler im Mittelalter unter heterodiegetischen Erzählern zu suchen, was insbesondere an der Zielrichtung der von ihnen eingesetzten Ironie liegt.